Sonntag, 17. April 2016

Neue Zürcher Zeitung am Sonntag: «Bier ist unser Gegengift»

Seit der Mensch sesshaft ist, braut er Bier. Es ist das erfolgreichste Produkt der Konsumgeschichte. Heute widerspiegelt das Getränk unsere Sehnsucht nach einer reinen unveränderten Welt, sagt der Kulturwissenschafter Gunther Hirschfelder
Frage:
NZZ am Sonntag: Herr Hirschfelder, haben Sie ein besonderes Verhältnis zum Bier?
Antwort:
Gunther Hirschfelder: Als Mitteleuropäer habe ich natürlich ein besonderes Verhältnis zum Bier. Wer als Student in den achtziger Jahren kein Bier trank, hat sich abgesondert von der Mehrheitsgesellschaft. Mit zunehmendem Alter habe ich mich davon aber emanzipiert und würde heute sagen: Ein Leben ohne Bier ist möglich.
Frage:
Aber sinnlos, um mit Loriot zu sprechen.
Antwort:
Das ist zu stark. Ich bin weder für noch gegen Bier. Bierkonsum ist vor allem eine kulturelle Tatsache.
Frage:
Vor 500 Jahren wurde das bayrische Reinheitsgebot des Bieres erlassen, es war Teil der Landesverordnung vom 23. April 1516. Dieses Datum fällt zusammen mit dem Beginn der Neuzeit. Ist das ein Zufall?
Antwort:
Beides hängt natürlich zusammen. Am Beginn der Neuzeit haben wir zwei Entwicklungen, die wichtig sind: Papier löst Pergament ab. Dank dem Buchdruck wird es möglich, Informationen zu vervielfältigen. Man kann vom Beginn eines Informationszeitalters sprechen. Als Folge der Reformation löst das Deutsche das Lateinische als Schriftsprache ab. Dadurch erlangen Gesetzestexte eine neue Bedeutung und erreichen viel mehr Menschen. Und noch etwas ist wichtig: Im 12. Jahrhundert beginnt die Blütezeit der mittelalterlichen Stadt. Brauwesen, Ausschank und Bierhandel werden jetzt immer wichtiger, weil sich dadurch ein wesentlicher Teil der städtischen Steuereinnahmen generieren lässt.
Frage:
Was bedeutet das Reinheitsgebot heute?
Antwort:
Wir leben in einer Zeit eines grossen technischen und kulturellen Wandels. Das Alte gilt als schützenswert. 500 Jahre Reinheitsgebot stehen für 500 Jahre Beständigkeit  ein Reflex gegen die Modernisierung. Als Mitteleuropäer wähnen wir uns in einer vergifteten Umwelt. Deshalb ist der Begriff Reinheit kulturell aufgeladen. Und Bier ist sozusagen unser Gegengift. Im Bier spiegelt sich die Sehnsucht nach einer reinen, unveränderten Welt.
Frage:
Es gab schon vor 1516 ähnliche Reinheitsgebote, die aber nicht dieselbe Bedeutung haben. Warum?
Antwort:
Das liegt am Aufkommen des mittelalterlichen Städtewesens. In den Städten kommt es zu einer Professionalisierung des Lebensmittelgewerbes. Teilweise versuchten die Städte auch, Lebensmittel sicherer zu machen. So gibt es erstmals auch Vorschriften für das Schlachten und städtische Fleischbeschauer. Behördliche Eingriffe gibt es auch schon sehr früh beim Bier, weil die Biersteuer eine enorme Bedeutung erhält. Obwohl etwa Hamburg im 14. und im 15. Jahrhundert zu grossen Teilen von Hafen und Handel lebte, war das Braugewerbe damals der wichtigste Wirtschaftszweig an der Elbe: Um 1370 besass Hamburg bei gut 7000 Einwohnern 531 Brauhäuser!
Frage:
Warum wurde Gerste als Braugetreide vorgeschrieben?
Antwort:
Das Bier sollte keine Konkurrenz für die Herstellung von Brot und Getreidebrei sein, für die man den Weizen reservieren wollte. Das ist im Grunde die gleiche Diskussion, die wir heute im Zusammenhang mit der Herstellung von Biotreibstoffen führen.
Frage:
Und die Hopfenvorschrift im Reinheitsgebot?
Antwort:
Dabei ging es darum, die heimischen, gehopften Biere zu schützen und die importierten Grutbiere aus dem Markt zu drängen.
Frage:
Die Bayern tun so, als hätten sie das Bier erfunden!
Antwort:
Nein, Bier stellt der Mensch her, seit er sesshaft ist, seit vermutlich 10 000 Jahren. Bier ist damit erheblich älter als Wein, obwohl die Weinherstellung eigentlich einfacher ist und obwohl Weintrauben im Fruchtbaren Halbmond durchaus vorhanden waren. Aber Bier brauten wir zuerst. Was unsere Vorfahren damit gemacht haben, wissen wir nicht. Aber viel deutet darauf hin, dass es Bestandteil von kultischen Handlungen war.
Frage:
Wurde Bier statt Wein hergestellt, weil die Zutaten ganz einfach billiger waren?
Antwort:
Vor allem waren sie fast überall verfügbar. Wein dagegen kann man nur in wenigen geeigneten Klimazonen anbauen. Getreide wächst fast überall, wo Menschen leben. In den kälteren Phasen der Kleinen Eiszeit kann man feststellen, wie Bier in vielen Gegenden den Wein verdrängte. Er war dort nur noch in Adelsgesellschaften und beim Abendmahl gebräuchlich. Aus dem Weinland Bayern wurde das Bierland Bayern.
Frage:
Wo Bier gebraut wird, herrscht Ordnung, schreiben Sie. Stellt das Brauen grössere Anforderungen an eine Gesellschaft als die Weinherstellung?
Antwort:
Nein, das würde ich nicht sagen. Entscheidend für unsere mitteleuropäischen Gesellschaften ist, dass wir ein positives Verhältnis zum Alkohol haben. Das ist ein Unterschied zur calvinistischen und vor allem zur US-amerikanischen Gesellschaft, wo es immer wieder Prohibitionsbewegungen gegeben hat. So etwas können Sie im Katholizismus nicht machen. Alkohol ist dort integrativer Bestandteil der Eucharistie. Deswegen können europäisch-katholische Gesellschaften nicht prinzipiell gegen Alkohol sein. Erst mit der Reformation kommt es dann zu einer Neubewertung des Alkohols.
Frage:
Warum feiern wir das Abendmahl mit Wein und haben Bier das Image eines Barbarengetränks gegeben?
Antwort:
Das verdanken wir den römischen Geschichtsschreibern. Bei Tacitus kann man sehen, dass es nicht darum ging, die Realität zu beschreiben, sondern um die Legitimation der eigenen Kultur. Ziel war es, einen Gegner zu definieren und zu diffamieren  die biertrinkenden Germanen. Die römische Kultur sollte als überlegen erscheinen.
Frage:
Dass die katholische Kirche zum Alkohol ein entspanntes Verhältnis hat, sieht man auch an der grossen Bedeutung der Klosterbrauereien.
Antwort:
Ja, die hätte es nicht gegeben, wenn die Kirche Alkoholkonsum zur Sünde erklärt hätte. Für die Klöster war der Verkauf von Bier natürlich eine wichtige Einnahmequelle, die man nicht gefährden wollte. Der Widerspruch zwischen dem christlichen Gebot der Enthaltsamkeit und der Praxis des Bierkonsums löst sich im Verlauf des hohen Mittelalters offenbar auf.
Frage:
Welche Rolle spielten Schweizer Klöster?
Antwort:
Das Kloster Sankt Gallen war schon im 9. Jahrhundert ein Technikpionier. Hier wurde realisiert, was in Europa technisch möglich war. Der Grundriss des Klosters zeigt, dass das Brauen auch baulich seinen festen Platz im Klosterkomplex hatte.
Frage:
Heute ist die Bierbranche grossindustriell organisiert. Die Weinherstellung ist dagegen kleinteiliger strukturiert.
Antwort:
Auch Wein wird teilweise grossindustriell hergestellt. Denken Sie an Südafrika, Spanien oder an die Moldau in der Sowjetzeit.
Frage:
Aber der Biermarkt wird global von grossen Konzernen beherrscht.
Antwort:
Bier ist in der Produktion immer billiger gewesen als Wein. Der eigentliche Sprung für die Bierherstellung ist die Erfindung der Kältemaschine Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Schritt gelang Gabriel Sedlmayr gemeinsam mit dem Ingenieur und Erfinder Carl Linde (18421934). Erstmals war Gärung bei konstant gleichbleibenden Niedrigtemperaturen möglich. Dadurch konnten Grossbrauereien entstehen, die länger haltbare untergärige Biere in riesigen Mengen herstellten. Bier wurde zu einem globalen Handelsgut.
Frage:
Die Industrialisierung hat Bier andererseits zu einem stark standardisierten Produkt gemacht. Wie wichtig ist Marketing?
Antwort:
Das Bier für den Massenmarkt bekommt heute eine künstliche Identität aufgedrückt. Im Moment erleben wir aber einen Paradigmenwechsel. Die handwerklich hergestellten Craft-Biere, die man vor wenigen Jahren noch für eine vorübergehende Mode halten konnte, gewinnen ständig an Bedeutung.
Frage:
Aber der Marktanteil bleibt klein.
Antwort:
Nein, inzwischen setzen sogar die grossen konservativen Brauereien auf Craft-Biere, und die Kunden verlangen danach. Das hat einen gesellschaftlichen Grund: Wir leben heute in Lebensstil-Gesellschaften. So wie man in den achtziger Jahren seinen Lebensstil durch eine politische Gesinnung definiert hat, drückt man sich heute durch den Konsumstil aus und immer öfter durch Präferenzen in der Ernährung. Deshalb haben wir heute eine gebildete urbane Gruppe, die sich mit den billigen Massenbieren nicht mehr zufriedengibt. In China ist das ganz anders: Dort sind die Produkte der Brauereikonzerne eine Chiffre für Modernität.


Fazit: Ohne die Stadt kein Bier.

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