In "Panikherz" besichtigt Benjamin von Stuckrad-Barre die Trümmer seines von Kokain, Magersucht und Egozentrik beschädigten Lebens. Sein Überleben verdankt der 41-Jährige vor allem dem Rocksänger Udo Lindenberg.
Christoph Hägele
Bamberg
Kübel voll Spott hätte er früher über ein solches Buch gekippt. Die manische Selbstbespiegelung hätte Benjamin von Stuckrad-Barre als hohl entlarvt und den Verfasser von "Panikherz" als öffentlichkeitsgeile Medienhure, die sogar noch das eigene Leid gegen ein paar Titelgeschichten verhökert. Gefühle, das war für Stuckrad-Barre ja immer gleichbedeutend mit Schwäche und allenfalls als Material für hämische Gags zu gebrauchen.
Man muss deshalb den Stuckrad-Barre des Jahres 2016 gegen die jüngere Ausgabe seines Ichs verteidigen. Denn der Schriftsteller, der in "Panikherz" die Trümmer seines beschädigten Lebens besichtigt, ist niemand anders als Stuckrad-Barre selbst. "Panikherz" handelt von den Verwundungen seiner Jugend- und Schulzeit, von dem Gefühl, den ganzen Erfolg in Wahrheit gar nicht zu verdienen, und von der Angst, schon bald als Hochstapler aufzufliegen.
Der 41-Jährige berichtet von Panikattacken, Ausgehexzessen, Selbsthass, von Magersucht und von seiner gespenstisch destruktiven Drogenabhängigkeit.
Exzess und Größenwahn
Benjamin von Stuckrad-Barre, das muss man wissen, war einmal so etwas wie das Wunderkind der deutschen Medien- und Literaturwelt. Mit kaum 20 Jahren Redakteur beim Musikmagazin "Rolling Stone" und dort in Windeseile berüchtigt für seinen nassforschen Gratismut, vom Zeitgeist abgehängte Stars wie Peter Maffay noch ein wenig lächerlicher zu machen.
Später Produktmanager bei einer großen Plattenfirma, Assistent des Talkmasters Friedrich Küppersbusch und Gagschreiber bei der Harald-Schmidt-Show. Ein Buch nach dem anderen, ausverkaufte Lesetouren, eine eigene Fernsehsendung und sogar Groupies. Wachsende Überforderung und Exzentrik, ein immer bizarreres Sozialverhalten, die Verknüpfung zur Welt mit jeder neuen Nase Koks weiter gelockert, extrem düstere, im Wahn verschwendete Jahre. Stuckrad-Barre, das wusste jeder Leser von "Bild", "Bunte" oder "Express", war sich mit den Jahren selbst abhandengekommen.
Sein Aufstieg noch war eng verknüpft mit einem Deutschland, das sich lockermachte und den Anschluss an die popkulturelle Moderne suchte. Es waren die Jahre, als Kanzler Schröder bei "Wetten, dass…" auftrat, Berlin sich als zwar wurschtig regierte, aber gerade deshalb weltbeste Party-Metropole erfand und die halbe Welt zu den Tracks deutscher Techno-Produzenten tanzte. Die Bücher zum neuen deutschen Lebensgefühl schrieben Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre. An Romanen wie Stuckrad-Barres 1998 erschienenem Debüt "Soloalbum" klebte das Etikett "Popliteratur". Die Bücher wollten alles sein, was die Günter Grass oder Heinrich Böll nicht waren. Innerlichkeit wich der Faszination für Oberflächen, das tiefe Gefühl der Ironie, die Kunstfertigkeit dem unmittelbar Hingeschriebenen. 18 Jahre nach "Soloalbum", alles noch da: der Sound, die Präzision der Beschreibung, leider auch die billigen Punkte auf Kosten längst waidwund geschossener Feindbilder (Ökos! Männer in Dreiviertelhosen! Überhaupt Menschen mit schlechtem Geschmack!)
An literarischen Maßstäben will man ein Buch wie "Panikherz" dennoch ungern messen. Das gelebte Leben verbittet sich ästhetische Haltungsnoten. Sicher, die zeitdiagnostischen Einschübe, in denen sich Stuckrad-Barre mit dem Internet und der digitalisierten Popkultur auseinandersetzt, gehören nicht zu den Glanzstücken des Buches. Stuckrad-Barres Stärke ist nicht die Analyse, sie ist die Beschreibungskunst.
Aus Magersucht wird Bulimie
So wenig wie Stuckrad-Barre früher auf die Formschwächen und Defekte seiner Mitmenschen Rücksicht genommen hatte, so wenig schont er nun sich selbst.
Seinen körperlichen, sozialen und auch geistigen Verfall protokolliert er kühl und mit der Detailversessenheit eines Insektenforschers. "Und dann entdeckte ich das Kotzen. Magersucht wurde Bulimie. Irgendwann in so einer Attacke wird dann alles egal." Selbstmitleid ekelt ihn und auch die Selbstergriffenheit vieler Geläuterter und Gerade-noch-Davongekommener.
Um Kokain macht Stuckrad-Barre heute einen großen Bogen. Er ist ein Abstinenzler, der die ihn peinigende Banalität des bürgerlichen Lebens aber weiterhin nur mit Antidepressiva und Schlafmittel auszuhalten glaubt. "Das nächste große Ereignis in unserem Leben wird unser Tod sein", schreibt Stuckrad-Barre im wohl traurigsten Satz der 564 Seiten.
Der Preis für sein Überleben ist eine Existenz, die Stuckrad-Barre nur als lau empfinden kann. Was früher Rausch und Kokain waren, sind heute Selbstdisziplin und Kamillentee.
Immerhin: Lernen, wie man ein beschleunigtes Leben leben kann, ohne es immer wieder neu riskieren zu müssen, kann Stuckrad-Barre vom in dieser Disziplin unbestrittenen Großmeister. Udo Lindenberg, der vom Alkohol selbst oft angezählte, aber nie zu Boden gegangene Altrocker, hatte den innerlich bereits erloschenen Stuckrad-Barre bei sich aufgenommen, ihn zu seinem Leibarzt geschickt und später in den Entzug. Gerade arbeiten beide an Lindenbergs neuer Platte. "Familie" - und damit meint Stuckrad-Barre seine Brüder und Eltern, aber eben auch den skurrilen Hofstaat rund um Lindenberg - "wer hat eigentlich je gewagt, etwas Substanzielles gegen dieses Konzept vorzubringen?", schreibt er auf einer der letzten Seiten. Für einen Roman wäre dies eine unbefriedigende, weil allzu frömmlerische Botschaft. Für eine Lebensmitschrift wie "Panikherz" ist sie vielleicht die einzig mögliche.
Fazit: Es zeugt von menschlicher Größe, dass Udo diesem Arschloch geholfen hat.
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