Montag, 4. April 2016

Die Welt: Kalkböden mit dem besonderen Kick



Die Region Rheinhessen feiert 200. Jahrestag. Einst wuchsen zwischen Mainz, Worms und Bingen Weine von Weltruf. Heute sind akribische Winzer wieder auf dem besten Weg dorthin.

Die Geschichte ist schon 25 Jahre alt. "Bub, der wird hier niemals reif", unkte Großvater Keller. Enkelsohn Klaus Peter hatte die besten Spätburgunder-Setzlinge eigens im französischen Burgund eingekauft, um den Frauenberg nahe Nieder-Flörsheim damit zu bepflanzen.
Dort besteht der Boden aus Löss. Staubschichten, die der Wind in verschiedenen Eiszeiten dort abgelagert hat. Eine tadellose Lage. Nährstoff- und kalkhaltig, leicht und durchlässig, ein exzellenter Grund für Weinreben. Nur der Großvater traute weder dem Klima noch den neuen Techniken seines Enkels. Klaus Peter Keller pflanzte trotzdem seine Reben. Heute erzielt er mit seinen Spätburgundern Spitzenpreise.

Die Lust der Jugend auf Neues

Eine Anekdote, die typisch ist für die Lust der Jugend auf Neues und Besseres und die ewige Skepsis der Alten. Nur das der Schauplatz hier auch noch eines der größten deutschen Weinbaugebiete mit besten Voraussetzungen ist. Das Klima ist mildwarm, es regnet wenig und Lössboden findet sich in unterschiedlichen Ausprägungen fast überall. Nur fünf der 136 Gemeinden Rheinhessens bauen keinen Wein an.
Aber der Durst der Nachkriegsgeneration auf billig-süßen Wein, massenhafter Einsatz synthetischer Düngemittel zur Ertragssteigerung und eine gewisse Habgier bei vielen in der Vätergeneration trugen dazu bei, den Ruf der Region durch minderwertige, zuckerige Massenware bis in die späten 80-Jahre gründlich zu ruinieren. Dann kamen Winzer wie die Kellers.

Die kleine Gruppe von Vorreitern dachte sich, dass es auch besser gehen kann. Die Weinbautechnik mit Ertragsbegrenzung und kontrollierter Vergärung machte gerade entscheidende Fortschritte. Aus dem bis dahin eher bäuerlichen Hinterland Rheinhessens kamen die Impulse für eine immer detailversessenere Arbeit im Weinberg. So entstanden die ersten modernen Rieslinge, komplex, mit tiefer Mineralität und so extraktreich, dass man ihre Kalksteintöne noch Minuten später auf der Zunge hatte.
Keller und Konsorten, zum Beispiel Wittmann und Battenfeld-Spanier, haben bis heute Weltruf erworben, indem sie sich Anfang der 90er-Jahre darauf verlegten, trockene Weine aus hochwertigen Rebsorten zu produzieren. "Meine Eltern haben an den Kick der Kalkböden geglaubt. Das war's", erinnert sich Klaus Peter Keller an seine ersten Jahre.
Heute dreht er mit großer Wirkung an kleinen Stellschrauben: Noch etwas ältere Reben, noch etwas spätere Ernte auch in schwierigen Jahrgängen wie 2014, da blitzt sein Genie auf. Keller gehört mittlerweile zur absoluten Spitze der deutschen Winzer, sein Riesling G-Max zu den teuersten trockenen Weinen in Deutschland überhaupt. Nebenbei macht er auch aus empfindlichem Silvaner filigrane kleine Kunstwerke. Sogar seine Weine aus der eher ungeliebten Scheurebe gehören zum besten, was man aus dieser Sorte machen kann. Ein einmaliger Aufstieg.
Angesichts solcher Erfolge witterten um die Jahrtausendwende auch andere rheinhessische Winzer ihre Chance. Doch auch für sie hieß es, den Generationskonflikt zu überwinden. "Es musste eh bissl was passieren", erinnert sich Stefan Winter aus Dittelsheim nachdenklich an das Jahr 2002. "Da wurde man belächelt, wenn man rheinhessische Weine ausgepackt hat." Mit Kollegen gründete er die Gruppe "Message In A Bottle", deren Zweck vor allem im Erfahrungsaustausch bestand.

Tabubruch in den Augen der Alten

Was zunächst nach Selbsthilfegruppe klingt, war ein Tabubruch, eine kleine Revolution, zumindest in den Augen der Vorgänger-Generation. Sie war es gewohnt, im Unwissen über die chemischen Vorgänge bei der Weinherstellung, die zu ihrer Lehrzeit in wesentlichen Teilen noch unerforscht waren, ihre Rezepte und Geheimnisse eigenbrödlerisch zu hüten.
Den Gärkeller eines Kollegen hatte bis dahin so gut wie kein Winzer je betreten. Die neue Generation jedoch war besser ausgebildet und erkannte den Vorteil wechselseitiger konstruktiver Kritik. Als Ergebnis wurden ihre Weine immer besser. Heute gehören die aktuell 26 Mitglieder von "Message In A Bottle" allesamt zu den erfolgreichen Betrieben. "Unser Ziel haben wir erreicht", sagt Stefan Winter, "und Jungwinzer sind wir auch nicht mehr".

Der Familienbetrieb wird umgekrempelt

Doch schon ist wieder der nächste Nachwuchs dabei, sich ehemals gefeierten, heute etwas ins Hintertreffen geratenen Lagen anzunehmen. Quasi ganz Rheinhessen verwandeln junge Winzer derzeit in eine Art Innovationszentrum. Marc Weinreich aus Bechtheim machte seine innerfamiliäre Revolution erst vor ein paar Jahren. Einen traditionellen Familienbetrieb, "der aus jeder kleinen Lage mindestens vier Weine in verschiedenen Qualitätsstufen machte", krempelte er im Schnelldurchgang zu einem modernen Bio-Weingut mit ausschließlich trockenen Weinen um.
Weinreichs Heimat, das Wonnegau, macht ihrem Namen alle Ehre. Wenig Regen und bis zu 2000 Sonnenstunden sind schon fast mediterrane Zustände. Unter diesen Bedingungen geht Weinreich so weit, einen Wein extrem lange, also vier bis fünf Wochen offen vergären zu lassen, Maischestandzeit noch oben drauf. So entsteht ein spannender "Orange" mit moderatem Alkoholgehalt, der für viel Diskussionsstoff gut ist. Nicht jeder möchte schließlich einen Wein mindestens 24 Stunden lang dekantieren, bevor er ihn trinkt.

Weniger Masse, mehr Geschmack

Das mit dem Alkohol beschäftigt auch Kai Schätzel aus Nierstein. Seit er 2008 das 650 Jahre alte Gut seiner Eltern übernommen hat, lässt er flächendeckend Gräser im Weinberg wachsen. "So nehme ich Energie aus den Weinbergen", sagt er und zupft penibel ein junges Blatt von einem Weinstock. "Die haben die größte Fotosyntheseleistung." Mit diesem Feintuning hat er den Ertrag von 100 auf nur noch 30 Hektoliter pro Hektar heruntergefahren. 
Um die richtige Balance zu bekommen, erntet er die besten Trauben, die man sonst zuletzt liest, zuerst. Jeder dieser Schritte sorgt für etwas weniger Alkohol im fertigen Wein. Den lässt Schätzel anderthalb, manchmal zwei Jahre liegen, bevor er ihn verkauft. Das ist zukunftsweisend. Reife ist genau das, was vielen guten Weinen fehlt, wenn sie zu früh getrunken werden.
Wie Schätzel sind auch seine Niersteiner Kollegen gesegnet mit den sagenhaften Lagen der Gegend, zum Beispiel Pettental, Ölberg oder Orbel, zusammengefasst in der tonhaltigen und von rotem Schiefergestein geprägten Großlage Roter Hang. Um mit diesem Pfund effektiver wuchern und dabei auch andere Lagen aufwerten zu können, hat sich die Winzergruppe "Rheinfront" mit Frontfrau Ursula Müller vom Niersteiner Weingut Schneider gegründet. Den etwas wuchtigen Namen erklärt sie so: "Das ist da, wo die Sonne Rheinhessen wachküsst." Die Weine von der "Abbruchkante des Hügellands" schmecken delikat und salzig-mineralisch. Diesen eleganten Aspekten kann man bei "Rheinfront" sogar in einer gemeinsamen Cuvée aus Weinen der drei Mitgliedsbetriebe nachspüren.
Die Zeiten, in denen Weine aus Rheinhessen vor allem dort auf den Tisch kamen, wo reichlich süßer Stoff für wenig Geld gefragt ist, sind in jedem Fall passé. Dank des technologischen Fortschritts und des mutigen Nachwuchses mit seinem Wissensdurst. Übrigens: Klaus Peter Keller und seine Frau Julia gehören mittlerweile nicht nur zum Winzer-Adel. Sie waren kürzlich im Buckingham Palast zum Essen. Die Queen selbst hatte eingeladen. Zu trinken gab es Keller-Weine aus Rheinhessen.


Fazit: Rhenhessische Flaschenpost


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Zensiert wird nicht. Allerdings behalte ich mir vor, Kommentare mit verletzendem Inhalt (Hass, Rassismus, Sexismus) von der Veröffentlichung auszuschließen.