Freitag, 15. April 2016

Die Welt: "Dasselbe wie 1,1 Promille": Verkehrsexperte Sven Rademacher über Smartphones am Steuer, tödliche SMS und die Zugkatastrophe von Bad Aibling

Die Ursache für das Zugunglück von Bad Aibling scheint geklärt: Zwölf Menschen mussten am 9. Februar bei dem Zusammenstoß zweier Züge sterben, weil der Fahrdienstleiter auf seinem Smartphone Spiele spielte und den Zügen deshalb falsche Signale gab.

Das Handy als Risikofaktor im Straßenverkehr, dieses Thema steht schon lange auf der Agenda des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR). Warum, erklärt Pressesprecher Sven Rademacher.

 Die Welt: 

 Herr Rademacher, dass Autofahrer Unfälle verursachen, weil sie mit dem Handy hantieren, ist aktenkundig. Aber haben Sie schon einmal davon gehört, dass ein Fahrdienstleiter der Bahn bei der Arbeit daddelt und so eine Katastrophe verursacht? 

 Sven Rademacher: 

Nein, mir ist kein weiterer Fall bekannt.

 Der Betroffene hat zugegeben, auf dem Handy gespielt zu haben. Er hat aber abgestritten, abgelenkt worden zu sein. Ist das überhaupt möglich? 

Diese Aussage ist relativ typisch. Sie wirft ein Licht auf das Gefahrenbewusstsein. Das ist bei vielen nur gering ausgeprägt. Wenn ich durch das Handy abgelenkt bin, egal ob als Fahrdienstleiter oder als Teilnehmer am Straßenverkehr, unterschätze ich das Risiko. Es ist ja auch vielleicht schon hundert Mal gut gegangen. Beim 101. Mal passiert dann aber leider etwas.

 Gibt es ein Beispiel, das verdeutlicht, wie sich die Ablenkung durch die Daddelei auf das Verhalten auswirkt? 

Wenn ich bei Tempo 50 unterwegs bin und allein eine Sekunde abgelenkt werde, lege ich in dieser Zeit 14 Meter zurück. Bei Tempo 100 sind es in zwei Sekunden schon 60 Meter. In dieser Zeit kann sonst etwas passieren - und ich kann darauf gar nicht mehr reagieren.

Wenn Sie sich vorstellen, wie viel Zeit es kostet, eine Textnachricht zu lesen, geschweige denn zu tippen - selbst Schnellschreiber brauchen dafür mehrere Sekunden. Dementsprechend lange dauert der Blindflug.

 Telefonieren, spielen, Nachrichten abrufen - welche dieser Handyfunktionen lenkt am meisten ab? 

Das Schreiben und Lesen von Textbotschaften. Eine Studie hat ergeben, dass sich das Unfallrisiko um das 164-Fache erhöht. Am Steuer zu telefonieren, das entspricht von der Wirkung her einem Alkoholgehalt von 0,8 Promille. Die Ablenkung durch das Schreiben von SMS entspricht 1,1 Promille. Da haben Sie nichts mehr im Griff.

 Wie viel Prozent der Unfälle mit Verletzten sind hierzulande der Tatsache geschuldet, dass Verkehrsteilnehmer durch das Handy abgelenkt waren? 

Valide Zahlen zur Ablenkung durch Handys als Unfallursache gibt es nicht. Die tauchen in der Unfallstatistik nicht als eigene Kategorie auf.

 Warum eigentlich nicht? 

Gute Frage. Die Unfallerfassungsbögen sind auf dem Stand von vor 40 Jahren. Sie müssten dringend an die Erfordernisse der Gegenwart angepasst werden.

 In welchen Kategorien verschwinden denn die handybedingten Unfälle? 

Schwer zu sagen. Das sind Unfälle, für die man keine andere Erklärung finden kann: Gerade Strecke, es hat weder geschneit noch geregnet, helllichter Tag, das Auto ist ohne erkennbaren Grund in den Gegenverkehr geraten oder von der Straße abgekommen.

 In Österreich und in der Schweiz werden diese Unfälle schon als eigene Kategorie erfasst. Wie hoch ist ihr Anteil an der Gesamtzahl? 

Er liegt zwischen 20 und 30 Prozent bei den Unfällen mit Personenschaden. Es liegt natürlich nahe, dass sich dieser Anteil in Deutschland ähnlich verhält. Eine Studie des Allianz-Zentrums Technik geht von zehn Prozent aus. Die Studie stammt allerdings aus dem Jahr 2011. Seither haben sich die Smartphones weiter verbreitet.

 Dagegen werden die Verstöße gegen ein Handyverbot sehr wohl registriert. Wer erwischt wird, zahlt ein Bußgeld von 60 Euro und kriegt einen Punkt. Ihre Zahl geht zurück. Sie sank von 443.358 (2011) auf 390.404 (2014). Wie passt das zu der These, dass die handybedingten Unfälle zunehmen? 

Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Ich denke, dass auch diese Zahl eher zunimmt. Doch wie sollen solche Fälle entdeckt oder geahndet werden? Der Polizei mangelt es an Kapazitäten, entsprechende Kontrollen durchzuführen. Die Dunkelziffer ist entsprechend hoch.

 In der Straßenverkehrsordnung ist auch nur von einem Handyverbot die Rede, nicht von einem Smartphone. Ist dieser Paragraf noch zeitgemäß? 

Genau das ist der Punkt. Es ist eine Regelung, die sich aufs Telefonieren beschränkt. Es ist verboten, das Telefon beim Fahren in der Hand zu halten. Dagegen ist das Telefonieren mit einer Freisprechanlage erlaubt. Sie dürfen auch das Navi programmieren. Dabei lenkt das genauso ab.

 Das heißt, mit Ausnahme des Handys wird die gesamte Kommunikationstechnik im Auto gar nicht von der Straßenverkehrsordnung erfasst? 

Diese Lücke muss geschlossen werden. Der Paragraf 23 muss aktualisiert werden. Handybedingte Unfälle müssen erfasst werden. Das Verbot am Steuer muss auch stärker kontrolliert werden. Das ist die rechtliche Seite. Dazu kommt die Prävention.

 Handys am Steuer müssen Thema in der Fahrschule werden. 

Gute Fahrlehrer sensibilisieren ihre Schüler schon heute dafür. Wir wünschen uns, dass die Fahrschulen dazu eine praktische Aufgabe in den Unterricht einbauen.

 All diese Probleme sind seit Langem bekannt. Wieso tut sich die Politik so schwer, das Gesetz zu reformieren? 

Das liegt eben daran, dass es keine Zahlen für handybedingte Unfälle gibt. Ich habe aber den Eindruck, dass langsam etwas passiert.

 Das Handy hat ein hohes Suchtpotenzial. Nach einer Studie schauen 17- bis 23-Jährige alle siebeneinhalb Minuten aufs Handy. Kann man so ein Verhalten am Steuer abschalten? 

Das ist die Frage. Selbst wenn man das Smartphone am Steuer genauso ächten würde wie Alkohol, würde es immer noch Verkehrsteilnehmer geben, die sich darüber hinwegsetzen.

 Man kommt im schlimmsten Fall mit einem blauen Auge davon, wie der Fall einer 19-Jährigen in Stuttgart gezeigt hat, die zwei Radler überfahren hat. Sie bekam zwei Jahre auf Bewährung. 

Ich maße mir nicht an, dieses Urteil zu bewerten. Es ist auch nicht einfach für die Ermittler. Wenn es um die Auswertung von Handydaten geht, geraten sie an die Grenzen des Datenschutzes. Der DVR legt den Fokus lieber auf die Prävention.

 Verbände fordern, dass sich Handys im Auto automatisch deaktivieren 

Ich bin skeptisch, ob das funktioniert. Das könnte zudem mit den Persönlichkeitsrechten kollidieren.


Fazit: Smartphone-User sind per se sturzbetrunken.

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