Donnerstag, 10. März 2016

Stadt-Panorama: Alkohol als soziales Medium Viel mehr als nur Sex und Suff

Brechend volles Haus im Café Kaldi gestern Abend, als Stadtarchivar Dr. Andreas Pilger tief in die Geschichte der Ruhrorter Hafenkneipen eindrang. Wegen des großen Andrangs wird der Vortrag am Montag, 14. März, ebenfalls um 19.30 Uhr im Café Kaldi wiederholt. 

Schon anderthalb Stunden vor Beginn des Vortrags ging praktisch nichts mehr im kleinen Café am Neumarkt, das zur Feier des Tages extra ein Banner mit dem früheren Namen "Zum Anker" über die Eingangstür gehängt hatte. Frank Jebavy, als Leiter des Festivalbüros verantwortlich für dieDuisburger Akzente, nutzte die Gelegenheit, sich bei Ruhrort als "Gastgeberstadtteil" der Hafengeburtstagsakzente zu bedanken: "Ich glaube, wir kommen nochmal wieder."
Und los ging's mit Dr. Pilger und jeder Menge Zahlen: 115 Einwohner pro Kneipe Ende des 19. Jahrhunderts (Durchschnitt reichsweit: 221 Einwohnern pro Kneipe), da habe sich Ruhrort gegen über der Regierung in Düsseldorf schon rechtfertigen müssen. Was es mit dem Hinweis auf die vielen Schiffe und deren Besatzungen tat, die halt die Kneipen frequentieren und auch ihre "Branntwein-Bedürfnisse für die Reisen hier entnehmen" würden. Apropos Branntwein: Der Cognac, der damals in Ruhrort über den Tresen ging, hatte satte 55 Prozent Alkohol.
"Vorsichtshalber weise ich darauf hin, dass die folgenden Passagen für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet sind." Der Andrang zum Vortrag war nicht umsonst so groß. Neben Alkohol und Unterhaltungsangeboten waren "Ansprache und auch das Ausleben sexueller Triebe [...] ein fester Teil der Ruhrorter Kneipenkultur", so Dr. Pilger, "und für die Wirte nüchternes Kalkül." Vom dehnbaren Begriff "Animieren"über den Verdacht, "die Weiber" in einer gewissen Kneipe würden "mit Männern auf dem Abort Geschlechtsverkehr unterhalten", bis zum Polizeibericht einer Messerstecherei wegen der Töchter des Wirts weidete der Stadtarchivar viele drastische Schilderungen aus, sehr zur Freude des Publikums.
Wie Pilger sich überhaupt schnell von Zahlen und Fakten hin zum Anekdotischen vorarbeitete, aber immer mit dem gebotenen Ernst. Das machte es ja so lustig.
Tatsächlich war sein Streifzug durch die Ruhrorter Kneipenkultur vor allem Sozialgeschichte. So wies die vergleichsweise kleine Hafenstadt bzw. später -stadtteil gerade auch in der Kneipenvielfalt bis hin zum jeweils dargebotenen Unterhaltungsprogramm ein komplex ausdifferenziertes Klassengefüge auf. War die Altstadt fest in der Hand von Schiffern, so betonte etwa der Wirt der "Postkutsche", seine Gaststätte am (damals vornehmen) Karlsplatz sei eben keine Hafenkneipe, sondern "ein anständiges Restaurant, das von anständigen Gästen besucht wird", während ein Wirt ein paar Häuser weiter darüber nachdachte, seine Wirtschaft in zwei Lokale mit getrennten Eingängen aufzuteilen, eins fürs "bessere Publikum", eins für Arbeiter. Und während ein Wirt am Neumarkt darauf hinwies, die Darbietungen in seinem Lokal seien "decenter Natur und für den Familienbesuch geeignet", warb die Gaststätte "Zur Krone" (später die legendäre "Tante Olga") mit der Zurschaustellung der "bärtigen Kellnerin Fräulein Minna".
Das wichtigste Thema aber: Kneipen waren Orte des sozialen Austauschs. Der Alkohol war, so Dr. Pilger, nicht nur dazu da, harte Arbeit herunterzuspülen, sondern vor allem ein "kommunikationsförderndes", ein "soziales Medium", ein "Mittel, das die Zunge löste und damit das Gespräch ermöglichte, nicht selten auch über gesellschaftliche Regeln und Schranken hinweg." In den Zusammenhang gehört auch die Geschichte der Hafenkneipen als Poststelle und Telefonzelle der Schiffer – und die Rolle, die Ruhrorter Hafenkneipen im Netzwerk des Widerstands im nationalsozialistischen Deutschland spielten, bei der Fluchthilfe für Juden nach Holland oder der Verbreitung verbotener Schriften.
Das und vieles mehr macht den Niedergang der Ruhrorter Kneipenkultur zu einem traurigen Kapitel. Gestiegener Wohlstand, mehr privater Wohnraum, geändertes Konsumverhalten und das Fernsehen, das die Wirtshausunterhaltung bzw. die dortigen Unterhaltungsangebote nach und nach abgelöst habe, hätten laut Pilger in Ruhrort "und generell" das Kneipensterben begünstigt.
Immerhin virtuell wiederbeleben lässt sich die Ruhrorter Kneipenkultur auf dem historischen Stadtspaziergang "Schiffer, Schnaps und Schlägereien", einem vom Stadtarchiv erstellten anderthalbstündigen Rundgang vom Tausendfensterhaus bis zum Friedrichsplatz. Dafür muss man sich nur eine kostenlose App herunterladen und installieren – hier gibt es den Link:https://biparcours.de/bound/KneipeninRuhrort – den entsprechenden QR-Code scannen, und dann kann man sich von Quizfragen und Aufgaben spielerisch durchs Ruhrort des 19. und frühen 20. Jahrhunderts führen lassen. Und an noch real existierende Einkehrmöglichkeiten wie "Zum Hübi" oder das Dammcafé wurde auch gedacht.


Fazit: Die kleine Kneipe in unserer Straße.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Zensiert wird nicht. Allerdings behalte ich mir vor, Kommentare mit verletzendem Inhalt (Hass, Rassismus, Sexismus) von der Veröffentlichung auszuschließen.