Sonntag, 1. Mai 2016

Welt am Sonntag: Apfel mit Aussicht: Die Deutschen denken bei Apfelwein immer noch an Bembel und den "Blauen Bock". Dabei hat das Traditionsgetränk viel Potenzial - es könnte das neue Craft Beer werden


Das Traditionsgasthaus "Daheim im Lorsbacher Thal" im Frankfurter Stadtteil Alt-Sachsenhausen ist ein gemütliches Lokal. Man sitzt auf alten Holzbänken an blank gewienerten Holztischen - es fehlt nur noch Heinz Schenk, der mit einem Bembel voller "Ebbelwoi" aus der Kulisse tritt. Man könnte hier bestimmt einen netten Abend verbringen, wäre da nicht dieses schale, herb-saure Getränk, das im "Gerippten" vor einem steht und schon vom Geruch her Böses für empfindliche Mägen befürchten lässt. Das stets bis zum Rand gefüllte 0,3-Liter-Glas mit hessischem Apfelwein, von Einheimischen liebevoll "Schobbe" genannt, ist das Gegenteil von süffig, zumindest für Außenstehende.

Eine neue Generation von Obstbauern, Apfel-Liebhabern und Gastronomen will das nun ändern. Sie möchten den heimischen Apfelwein modernisieren und ihm einen neuen Stellenwert geben, gegen den Widerstand der Traditionalisten. Vorbild ist das Ausland: In Frankreich, Großbritannien, Skandinavien, in den USA und Kanada, in Australien und sogar in Polen gibt es einen regelrechten Apfelwein-Boom mit qualitativ hochwertigem, in Handarbeit hergestelltem "Cidre artisanal" und "Craft Cider", die zuweilen schon populärer sind als das mittlerweile allgegenwärtige Craft Beer. Dadurch gerät auch im betulichen Deutschland die Szene allmählich in Bewegung.

Aktuell werden in Deutschland jährlich 45 Millionen Liter Apfelwein hergestellt, die Hessen konsumieren von ihrem Nationalgetränk allein 34 Millionen Liter. Der Absatz des nur leicht alkoholischen Getränks, das schon die alten Griechen, die Römer und die Germanen kannten und das seit dem 17. Jahrhundert in Deutschland vor allem im Frankfurter Raum hergestellt wird, bewegt sich hierzulande nur leicht nach oben, dasselbe gilt für die Qualität. Beim deutschen Apfelwein herrschte bislang Altbewährtes, und deshalb mehr oder weniger Stillstand.

Jens Becker gehört zu den deutschen Apfel-Revoluzzern, vor acht Jahren hat er in Frankfurt die erste Apfelweinhandlung eröffnet, zunächst ausschließlich mit heimischen Produkten. Mittlerweile finden sich im Sortiment auch erstklassiger französischer Cidre, einige Craft Cider und der dem deutschen Apfelwein in seinem Säuregehalt ähnliche Sidra aus Asturien. "Bis vor Kurzem noch war beim deutschen Apfelwein alles genauso, wie es schon immer gewesen ist", sagt Becker, ein Marketingfachmann mit familiären Verbindungen in die Apfelwein-Szene. "Es waren immer die gleichen Apfelsorten, der Wein wurde immer durchgegoren, man hatte ein bestimmtes Geschmacksbild im Kopf. Die einzige Veränderung geschah heimlich: Es wurden immer mehr Konzentrate verwendet."

Während große Apfelwein-Hersteller auf günstiges Saftkonzentrat aus dem Ausland zurückgreifen, um die Literflasche im Supermarkt für knapp zwei Euro anzubieten, bildet sich bei vielen Obstbauern allmählich ein neues Qualitätsverständnis. "Die Leute werden sich bewusst, welchen Schatz sie mit ihren heimischen Streuobstwiesen haben", sagt Becker. Unter anderem deshalb, weil mittlerweile die Chinesen kämen, die größten Apfelproduzenten der Welt. Sie suchten händeringend nach Direktsaft "Made in Germany", weil zu Hause niemand mehr chinesisches Apfelsaftkonzentrat trinken wolle.

Jens Becker produziert deshalb auch seinen eigenen Streuobstwiesen-Apfelwein. Einen traditionell hergestellten, naturbelassenen Hausschoppen, der auch zur Kontaktpflege mit den Alteingesessenen dient. Und einen eleganteren, weniger herben Jahrgangswein, von dem die 0,75-Liter-Flasche 8,50 Euro kostet. "Noch vor zehn Jahren hätte der ortsansässige mittelgroße Kelterer vor dem Preisschild gestanden und nur mit dem Kopf geschüttelt", sagt er. Mittlerweile folgten aber viele Manufakturbetriebe diesem Beispiel, geführt von Menschen, die über das Dasein des Obstbauern hinaus jetzt auch wieder anfingen, Weine von den eigenen Obstwiesen herzustellen. "Dadurch wird der Apfelwein, traditionell ein Arme-Leute-Getränk, auf ein ganz neues Qualitätsniveau gehoben", sagt Becker. "Von der Erfahrung her steckt das zwar meistens noch in den Kinderschuhen. Aber die Motivation ist da."

Beobachten ließ sich diese Aufbruchstimmung bei der Messe "Apfelwein weltweit", die Anfang April in Frankfurt stattfand. Mit 2000 Besuchern und 100 Ausstellern aus 16 Ländern, so viele wie nie zuvor. Die Apfelwein-Freaks Andreas Schneider und Michael Stöckl veranstalten die Zusammenkunft nun schon seit acht Jahren. Ironischerweise hat man bei der Lobby-Organisation der Supermarkt-Apfelweinhersteller, dem Verband der deutschen Fruchtwein- und Fruchtschaumwein-Industrie, noch nie davon gehört. Wahrscheinlich ist nicht nur Ignoranz der Grund, sondern auch das Fehlen einer klaren Linie und die buchstäbliche Unausgegorenheit der Produkte der neuen deutschen Apfelweinproduzenten. Es wird viel experimentiert, Begriffe wie Sortenreinheit, Lage und Terroir, die beim Wein wichtig sind, kommen mittlerweile auch im Vokabular der Apfelweinmacher vor. Wirklich Interessantes, Schmackhaftes und deshalb im größeren Stil Vermarktbares lässt sich an den Ständen der deutschen Aussteller aber nicht probieren.

Eine Ausnahme sind die Produkte des Messe-Mitveranstalters Andreas Schneider. Auch er war mal Obstbauer, vor mehr als 20 Jahren sei er dem sich immer schneller drehenden Sortenkarussell "weggehüpft", wie er sagt. "Wenn du als Hersteller 20 bis 30 Cent fürs Kilo Äpfel bekommst und der Handel am Markt 3,50 Euro erzielt, kommst du schon ins Grübeln, warum du immer genau diesen einen Jonagold-Klon brauchst, der die größten und schönsten Qualitäten hervorbringt", sagt Schneider. "Ich habe mir damals gesagt: Ich mache jetzt 'Apfel zeitlos', mit historischen Sorten."

Aus den Früchten der Apfelbäume, die er in den 80er-Jahren auf seinem "Obsthof am Steinberg" vor den Toren Frankfurts gepflanzt hat - es sind mittlerweile 125 alte Sorten - keltert Andreas Schneider sortenreine Apfelweine, Apfelperl- und -schaumweine. Für seine "Goldparmäne", "Ananasrenette" oder "Wildlinge auf Löß" erntet er nur vollreife Früchte, lässt den Wein jahreszeitlich vergären und füllt nur denjenigen auf die Flasche, der ihn wirklich überzeugt. Zehn bis 15 Jahre Lagerfähigkeit seien bei diesen Weinen kein Problem, sagt der Apfelwinzer. Ein Problem sei nur die fehlende Anerkennung der Verbraucher, die noch nicht vertraut seien mit dem zeitgenössischen Apfelwein. "Die Leute fragen im Laden nicht: Warum ist denn dieser Apfelwein so teuer? Die gehen einfach am Regal vorbei und greifen zum nächstbesten Riesling vom Winzer ihres Vertrauens. So eine Entwicklung braucht einfach Zeit."

Und sie braucht Vorbilder wie den Franzosen Eric Bordelet. Ehemals Sommelier im Pariser Dreisterne-Restaurants "L'Arpège", gilt Bordelet schon lange als Superstar der neuen Cidre-Bewegung, seine Produkte haben den Körper und die perfekt ausbalancierte Aromenvielfalt von großen Weinen. Auch Bordelets Kollegen Cyril Zangs aus der Normandie und Johanna Cecillon aus der Bretagne machen solche großen, vollmundigen Cidre, die zudem ungefiltert sind und ohne Schwefel auskommen - es handelt sich sozusagen um Apfel-Naturweine.

Die Produkte von Eric Bordelet und Johanna Cecillon stehen neben weiteren Fruchtweinen, unter anderem aus Kirschen und Rhabarber, auch auf der Getränkekarte des Berliner Restaurants "Nobelhart & Schmutzig". Dessen Inhaber, der vielfach ausgezeichnete Sommelier Billy Wagner, möchte dafür sorgen, dass in Gastronomie und Gesellschaft ein Umdenken stattfindet. "Solange etwas nicht aus Trauben gemacht ist, wird es nicht ernst genommen. Das kann doch nicht sein", sagt Wagner. Er serviert zu einem Dessert, einer Petersilienwurzel-Granité auf einer Creme aus frischem Haselnussöl, den bretonischen Cidre "Kystin" von Sasha Crommar, der mit frischen Esskastanien aromatisiert ist. Das zart moussierende Getränk ist von leichter, cremiger Süße und verbindet sich mit dem Dessert zu einem überraschenden, aber sehr logischen Geschmackserlebnis: Waldorfsalat.

Für den Weinprofi Wagner bedeuten Fruchtweine eine Erweiterung des Aromenspektrums, genau wie Bier, das in seinem Restaurant ebenfalls den einen oder anderen Gang begleitet. "Apfelwein eröffnet ein ganz neues aromatisches Feld. Das ist erkundenswert, wenn man sich für Geschmack interessiert." Für Wagner hat Fruchtwein aber auch eine politische Dimension: "Mit dem Konsum dieser Produkte fördert man die Biodiversität. Es ist wichtig, Saft und Wein von alten Streuobstwiesen zu trinken, weil sie dadurch eine wirtschaftliche Bewandtnis haben. Sonst kommt irgendwann eine Planierraupe und macht das weg."

Zur Ehrenrettung des "Daheim im Lorsbacher Thal" muss man sagen, dass auch dort mittlerweile eine große Auswahl zeitgenössischer Apfelweine auf der Karte steht. Sie macht Lust auf eine Apfelweinprobe jenseits von Handkäs' und Gemütlichkeit - vorausgesetzt, man hat den Hauswein überlebt.



Fazit: Hipster aufgemerkt - mit Äppelwoi und Handkäs' seid ihr ganz vorne!

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