Sonntag, 1. Mai 2016

Neue Zürcher Zeitung am Sonntag: Jahrgang 1700: Im Abgang faule Eier mit Meerwasser

In München wurde jüngst eine der ältesten Weinflaschen der Welt geöffnet. Der Wein ist ungeniessbar, eine chemische Analyse erzählt aber seine Geschichte.
Als der Wein in der Flasche, die vor Rechtsanwalt und Weinsammler Volker Müller auf dem Tisch steht, als Traube an einem sonnigen Hang heranreifte, sah die Welt noch anders aus. Über Frankreich herrschte Ludwig XIV., und die Türken belagerten gerade zum zweiten Mal Wien. Rund 300 Jahre ist dies her, seitdem hat sich vieles verändert. Die Französische Revolution setzte dem Prunk des französischen Hofstaates ein Ende, und die Türken zogen wieder ab. Doch von all dem bekam der Wein nichts mit. Er lag in absoluter Stille, ohne Licht und bei äusserst moderater Temperatur am Grund der Nordsee.

Dort fand ihn 2014 ein Freund Müllers, der Wracktaucher Olaf Lühring. Durch Zufall: «Wir suchten an der Stelle eigentlich nach einem ganz anderen Wrack», erzählt er. Der Ort rund 50 Kilometer vor der Küste nahe einer alten Handelsroute war mehreren Schiffen zum Verhängnis geworden: «Wir wissen aus den Akten, dass dort Schiffe aus England, aus Skandinavien, aus Frankreich und Deutschland liegen.» Woher nun ausgerechnet das Schiff kam, mit dem diese und mindestens vier weitere Flaschen auf den Meeresgrund sanken, ist indes unbekannt.

Auch wie alt das Wrack genau ist, lässt sich nur schwer schätzen. Dafür grenzen aber die Flaschen selber ihr Alter genau ein. Sie sind aus schwarzem Glas und haben die bauchige Mallet-Form, die an eine Zwiebel erinnert. Damit gehören sie zu den frühesten Weinflaschen aus Glas, die jemals hergestellt wurden. Erst im 17. Jahrhundert wurde es Mode, Wein in Flaschen zu füllen. Zuvor mussten dafür tönerne Amphoren, Holzfässer oder Tierhäute herhalten. Allerdings sind die Öffnungen bereits mit Korken verschlossen  und diese Technik wurde in der Neuzeit erstmals um 1680 von dem Benediktinermönch Pierre Pérignon für seine Schaumweinflaschen angewandt.

Vor diesem Korken hat Müller gehörigen Respekt. «Ich bin ein wenig nervös», gesteht er, als er vor den im Weinkeller des Münchner Gastronomen Michael Käfer versammelten Gästen den Korkenzieher ansetzt. Der Korken ist steinhart  300 Jahre lang zusammengedrückt von einer 50 Meter hohen Wassersäule. Nur stückweise gibt er nach. Kaum ist er aus der Flasche, breitet sich ein unangenehmer Geruch im Kellergewölbe aus. Es riecht nach Schwefelwasserstoff: eine chemische Verbindung, die charakteristisch ist für faule Eier und Mundgeruch.

Blassgelbe Flüssigkeit

Der Einzige, der sich begeistert auf die Flasche stürzt, ist Philippe Schmitt-Kopplin, Professor am Lehrstuhl für analytische Lebensmittelchemie der Technischen Universität München. «Wir müssen für die Laboruntersuchung eine Probe nehmen, bevor die Luft den Inhalt oxidieren und kontaminieren kann», erklärt der Chemiker, während er, die Hände in Plastic-Handschuhe gehüllt, eine blassgelbe Flüssigkeit aus der Flasche zieht und in Ampullen füllt.

Jetzt gilt es, Mut zu beweisen. «Da ist noch genug für uns alle drin», sagt Müller nach einem Blick in die Flasche. Während einige Gäste sich schaudernd abwenden, giesst er ein erstes Glas ein und nimmt vorsichtig einen Schluck. «Dieser Geschmack ist mit nichts vergleichbar», ringt er sich schliesslich ab, «aber probieren Sie selbst!» Im Glas scheint der Wein dunkler als noch bei Schmitt-Kopplins ersten Proben. Tiefer in der Flasche ist er rötlich. Der schwerere Rotwein sank während der aufrechten Lagerung nach unten, das durch den Korken eingedrungene leichtere Salzwasser aber drängte nach oben. Es kostet einige Überwindung, etwas in den Mund zu nehmen, was diesen Geruch verströmt. So also schmeckt Geschichte  nach faulenden Eiern, verrührt in abgestandenem Meerwasser.

Am nächsten Morgen in seinem Labor der Abteilung Analytische BioGeoChemie am Helmholtz-Zentrum München nimmt Schmitt-Kopplin sich seine Proben vor. Er geht auf die Suche nach dem Wein, der auch nach 300 Jahren immer noch unter Schwefelgestank und Salzwassergeschmack verborgen liegt. Erstaunlicherweise ist er  zumindest chemisch  noch relativ deutlich erkennbar: «Unsere erste Profilierung am Massenspektrometer ergibt Tausende von Metaboliten mit Signaturen von Schwefelorganik und immer noch eine starke Wein-Signatur im Bereich der Phenole», sagt er. Während draussen in Europa die Kriege tobten und die politischen Konstellationen sich änderten, passierte im Inneren der Flasche ganz Ähnliches. Unter den stark reduzierten Bedingungen im Meeressediment kämpften mikrobielle Gesellschaften um die Schwefelmoleküle.

Reste einstiger Mikroorganismen

Das chemische Erbe dieser Prozesse will Schmitt-Kopplin nun ermitteln. «Wir hoffen, in der komplexen Mischung noch eine ursprüngliche Metaboliten-Signatur zu finden, die wir mit unserer Datenbank abgleichen können», erläutert er seinen Plan. Isotopenanalysen sollen das genaue Alter klären. Überbleibsel der einstigen Mikroorganismen können verraten, auf welchem Boden der Wein angebaut wurde. Genetische Untersuchungen zeigen, welche Traubensorte ihm zugrunde liegt.

Fraglich ist allerdings, ob sich bei dem gewöhnungsbedürftigen Geschmack für die restlichen Flaschen ein Käufer finden wird. Es ist ein Glücksspiel: Hat das Salzwasser sie alle ungeniessbar gemacht? Oder blieb den anderen Flaschen, die auf ersten Blick etwas weniger Flüssigkeit zu enthalten scheinen, dieses Schicksal erspart? «Das ist völlig zweitrangig», beteuert Weinsammler Müller. «Es war einfach ein Abenteuer, eine der ältesten original verkorkten Weinflaschen der Welt mit Freunden zu öffnen.»



Fazit: Alt und original verkorkt.

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