Freitag, 22. April 2016

Neue Zürcher Zeitung: Quergeist auf Harmoniesuche

Die Experimentierlust hat er im Blut, das Koffein ohnehin: Francesco Illy, Unternehmer und Winzer, ist von Perfektion besessen, von Schönheit berührt  und hat kein Problem, als Spinner zu gelten. 

Er kam einst der Liebe wegen aus Triest in dieses Land und trug dazu bei, das Espresso-Feuer in der Deutschschweiz zu entfachen. Also treffen wir Francesco Illy in einem Caffè italienischer Prägung mit anständigem Koffein-Angebot, allerdings im Preisniveau der Zürcher Bahnhofstrasse. Banker und gut betuchte Touristen prägen das Bild, gediegene Businesswelt mischt sich mit etwas Beschaulichkeit im «Al Leone». In diesem Umfeld hat der 63-Jährige, eine kaum schubladisierbare Mischung aus Feingeist und Kraftwurzel, aus Bonvivant und Rebell, etwas von einem Paradiesvogel  nicht nur des Hangs zu bunten Kleidern wegen: Feuerrot ist die Daunenjacke, die Furche über dem linken Auge eher Narbe als Runzel, wild wuchern die Brauen, die graumelierte Mähne bricht wiederholt aus dem Zopf aus, zu dem sie notdürftig gebändigt ist.

Die Sache mit der Milch

Bald vierzig Jahre ist es her, dass er in Muttenz seine künftige Ehe- und heutige Ex-Frau kennenlernte, mit der er zwei Kinder hat. Sie führt heute in Cham die Amici Caffè AG, die er damals gründete, um die Illy-Produkte der gleichnamigen Triester Familiendynastie in seiner neuen Heimat zu vermarkten (bis heute laufen sie hierzulande unter diesem Namen). Damals soll selbst in den italienischen unter Zürichs Lokalen kaum jeder sechste Kaffee als Espresso abgesetzt worden sein. Heute ist es über die Hälfte. Und Illy räumt gerne ein, dass in den letzten Jahren einige tolle Caffè-Bars hinzugekommen sind.

Allerdings ist der Café crème so wenig ausrottbar wie die Unsitte, zu jeder Tageszeit Cappuccino zu trinken. Und es sind gravierendere Sünden hinzugekommen  etwa die Aromatisierung mit Caramel oder Vanille, wie eine amerikanische Kaffeehauskette sie populär gemacht hat. Für diese Konkurrenz hat er nur ein mildes Lächeln übrig: Starbucks sei im Grunde im «Milch-Business», sagt er angesichts von dessen Hang zu Mischgetränken. Morgens trinkt auch er einen Cappuccino, dann aber komplettiert er sein Kontingent von fünf Kaffees pro Tag mit Espressi. So macht man es in Italien. Dass hierzulande aber immer mehr Kaffee mit Milch oder Rahm getrunken wird, findet er schade: «Man spürt die Wahrheit nicht mehr.»

Illys Passion für starken Kaffee wurzelt in einer verwinkelten Familien- und Unternehmensgeschichte. Die Kürzestfassung: Illycaffè, heute von seinen Brüdern geführt, wurde 1933 in Triest vom gebürtigen Ungarn Francesco Illy gegründet. Dieser starb, als der Enkel und Namensvetter dreijährig war, vererbte ihm aber den Forschungs- und Erfindungstrieb, mit dem er selbst Pionierarbeit für die Haltbarkeit von Kaffee geleistet hatte.

Francesco Illy der Zweite legt keinen Wert darauf, Gesprächspartner zu unterfordern oder gar zu langweilen. Wenn er schwärmt, dann richtig, etwa vom besten Kaffee, den er je hatte, einem jamaicanischen Blue Mountain einer Mikrorösterei in Paris vor drei Jahren. Oder von der Gewürznote, die ihn neulich in Amerika in einem Zinfandel beglückte: «Noch nie fand ich Anis in einem Wein!», sagt er, während seine stahlblauen Augen das Gegenüber fixieren  mit einer triumphierenden Note, als hätte ein Botaniker gerade eine unregistrierte Pflanzenart entdeckt. Doch er belässt es nicht bei Schwärmereien. Greift er zu seiner bevorzugten Selbstdefinition, «professioneller Genussologe», seziert er sogleich den Begriff «Genuss»: Serotonin, Neurotransmitter . . .  Sein Flair für Tiefenanalyse verdankt er nach eigener Einschätzung dem ausgiebigen Kontakt mit der helvetischen Mentalität, es scheint in seinen regelmässigen Artikeln für das in Zürich ansässige Magazin «Marmite» ebenso durch wie in mündlichen Exkursen. So erläutert er, der gern mit Hochschulen kooperiert, mit Akribie und Verve physikalische wie chemische Prozesse der Nahrungsproduktion, er zitiert oft Studien, skizziert Thesen, entwirft aber auch Visionen wie die, dass ganze Wüsten zu Ackerland aufgewertet oder auf biodynamischem Weg mit Bäumen bepflanzt werden, um den CO2-Ausstoss zu reduzieren.

Afrika zu begrünen, das ist eine seiner Lieblingsideen. Doch Illy ist nicht als Traumtänzer abzutun, dafür hat er zu handfeste Erfolge vorzuweisen, von seinen Weinen bis zu diversen Erfindungen, etwa der Kaffeemaschinen seiner Marke «Francis Francis». Und wer glaubt, der Purist lege jedem eine Siebträgermaschine für 3000 Franken ans Herz, sieht sich getäuscht: Illy betont, wartungsarme Kapselsysteme zeitigten im Alltag oft bessere Resultate, als neun von zehn mit Kolbenmaschinen ausgestattete Caffè-Bars sie hierzulande böten. Auch Illy-Kaffee, in 140 Ländern auf allen Kontinenten abgesetzt und in über 100 000 Gaststätten serviert, wird zunehmend in dieser Form verkauft. Und heiss will er natürlich getrunken werden: Lässt der Journalist seine Tasse ein Weilchen stehen, um sich ganz aufs Gespräch zu konzentrieren, schiebt Illy, in Genussfragen speziell achtsam, sie ihm besorgt wieder zu.

Er ist ein Besessener, was Perfektion betrifft. Auch das sieht er als Erbe seiner Wahlheimat, wie gewisse Kenntnisse des Dialekts, in den er gelegentlich aus dem Hochdeutschen kippt. Dies etwa, wenn er wiedergibt, was schon viele zu seinen Ideen gesagt hätten: «Spinnsch eigentli?» Das ficht ihn so wenig an wie der Lauf der Zeit, so scheint's. Den Hinweis, dass das theoretische Pensionsalter nicht mehr weit weg wäre, wischt er mit einem «Absurd!» beiseite. Lieber schaut er voraus auf die nächsten vier Jahrzehnte: Sein Ziel ist, 105-jährig zu werden. Im Dienst dieses Vorsatzes hat er trotz genügend aktiven Flugstunden nie das Brevet gemacht: Das zwingt ihn, der sich weder genug Erfahrung noch genügend kalte Nerven attestiert, stets mit einem erfahrenen Piloten an der Seite zu fliegen.

Ein Weinkeller wie ein Schneckenhaus

Während sich nebenan eine Dame im Pelz hinsetzt, gibt Illy wieder, was ihm jüngst ein Experte prophezeit hat: Die Hälfte der Flächen, auf denen man heute Arabica-Kaffee anbaue, sei aufgrund der Klimaveränderung ab 2050 nicht mehr dafür verwendbar. Deshalb gehöre dem Robusta, widerstandsfähiger nicht nur dem Namen nach, die Zukunft. Nachhaltigkeit ist ein grosses Thema für Illy, sei's in sozialen Fragen  seit einem Vierteljahrhundert kauft Amici die Kaffeebohnen direkt bei den Bauern, um sie fair zu bezahlen , sei's aus umweltschützerischer Sicht. Allein, auf dem Fahrrad legt er seine immensen Arbeitswege nicht zurück. Er verbringt jährlich tausend Stunden im Auto zwischen dem Büro in Cham, dem Segelboot in Triest, dem Wohnsitz im Maloja und dem toskanischen Weingut Podere le Ripi bei Montalcino. Dort baut er seit über zehn Jahren vorzügliche Tropfen an, nach biodynamischen Grundsätzen, gemäss denen der Boden mit klein gehaltener Ernte sein Bestes hergibt. Es ist sein lange gehegter Traum, dass sich diese Prinzipien in der Landwirtschaft auch ausserhalb des Hochpreissegments durchsetzen.

In letzter Zeit war er besonders oft auf seinem Weingut: Kürzlich hat er mit seinem Sohn Ernesto, einem Architekten, der inzwischen bei Illycaffè in Triest eingestiegen ist, nach zehnjähriger Bauarbeit den neuen Weinkeller eröffnet, der sich wie ein Schneckenhaus in die Erde windet  ohne Stahlträger, Zement und Chemikalien: das ideale Pendant für seine Anbaumethoden. Er wollte etwas bauen, «das keinen magnetischen Einfluss hat». Wenn ein Wein sieben Jahre dort lagere, habe selbst die kleinste Magnetwirkung einen Einfluss, das habe ihm ein Medizinprofessor bestätigt. 750 000 Ziegel sind von Hand gelegt und die Prinzipien des Goldenen Schnitts beachtet worden. «En Spinner? Ja, vielleicht, scho guet», sagt er lächelnd. Aber die Menschen, die den Ort besuchen, spüren das Resultat, davon ist er überzeugt. Und der Wein, dem er sogar die Beförderung in Pumpen erspart, da er sie als gewaltsam empfindet, soll es sowieso danken.

Der Motor dieses Projekts ist die Suche nach der absoluten Harmonie, nach deren Urformel, die das Universum umtreibt. «Was aber, Herr Illy, treibt Sie an?» Er bestellt einen Ristretto, überlegt kurz: «Was treibt mich an?» Kunstpause. «Schönheit.» So einfach ist das  und so kompliziert.


Fazit: Wein magnetisiert den Trinker.

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