Montag, 28. März 2016

Neue Zürcher Zeitung: Vom Pub direkt ins Parlament. In Irland spielt der Niedergang der traditionellen Parteien populären Dorfpolitikern in die Hönde

Die Brüder Danny und Michael Healy-Rae aus der Grafschaft Kerry setzen sich für die Rechte einfacher Bürger ein, etwa die Abschaffung der Promillegrenze. In Irland lässt sich damit politisch Karriere machen.

An einem Samstagnachmittag im März füllt sich die Empfangshalle des Hotel Scotts in Killarney langsam mit Besuchern. Das Städtchen in der Grafschaft Kerry im Südwesten Irlands ist ein touristischer Ort, entsprechend grosszügig ist die Hotelhalle mit Sitzecken und Teetischen ausgestattet. Aber die meist betagten Gäste, die sich in die Polstermöbel fallen lassen, wollen nicht übernachten. Sie warten bloss darauf, in den angrenzenden Salon eingelassen zu werden, in dem Michael Healy-Rae seine wöchentliche Sprechstunde hält.

Parteilose haben Aufwind

Der 49-jährige Healy-Rae ist einer von fünf Abgeordneten des Wahlkreises Kerry im Dail, dem irischen Unterhaus. Bei den jüngsten Wahlen Ende Februar wurde er glänzend wiedergewählt, knapp hinter ihm folgte Danny Healy-Rae, 61-jährig, der ältere Bruder. Er schaffte die Wahl ins Parlament auf Anhieb. Die Brüder kandidierten als Parteilose, aber im County Kerry sind sie eine Marke. Sie machen den Job besser als die Konkurrenz, erklärt Michael. “Andere gehorchen ihren Parteien, wir den Wählern.“ Das ist Propaganda, aber wer den Healy-Raes bei der Arbeit zuschaut, versteht, warum sie populär sind.

Insgesamt 18 Stimmenprozent entfielen bei den Parlamentswahlen auf unabhängige Kandidaten. Wie in anderen europäischen Demokratien auch laufen den traditionellen Grossparteien - in Irland sind das Fianna Fail und Fine Gael - die Wähler davon. Vereinigten sie 2007 noch gemeinsam 69 Prozent der Stimmen auf sich, fiel dieser Anteil 2011 auf 55, dieses Jahr auf unter 50 Prozent. Anders als in anderen Ländern profitieren davon in Irland aber nicht rechtspopulistische Parteien, sondern die linkspopulistische Sinn Fein und, vor allem, Parteilose wie die Heaky-Raes. Mit 23 von 158 Abgeordneten könnten Unabhängige bei der Regierungsbildung ... das Zünglein an der Waage spielen.

Die Gesuchsteller im Hotel Scotts sind etwa Ehepaare, die für den altersgerechten Umbau ihres Hauses Subventionen einfordern, oder Familien, die wünschen, dass eine Grossmutter in den Genuss von Spitex-Diensten kommt. Ein Kleinunternehmer benötigt eine Projektbewilligung für sein Investitionsvorhaben. Eigentlich gehen die Anliegen Michael Healy-Rae nichts an, schliesslich sitzt er in der nationalen Legislative, nicht in einer regionalen Planungs- oder Gesundheitsbehörde. “Aber er kennt alle Leute“, erklärt eine Dame, “er kann uns helfen.“

Macht der Klientele

Michael Healy-Rae sitzt im Nebenzimmer und hört sich die Begehren an. Er ist frisch rasiert und trägt ein weisses Hemd mit zurückgekrempelten Ärmeln , dazu eine dunkle, schmale Krawatte und eine Kunstlederkappe. Die Montur ist sein Markenzeichen, so schaut er von Wahlplakaten herunter. Healy-Rae weiss, wie man seinen Einfluss ausspielt, er ist ein Händler auf dem Markt der Begünstigungen. Vor ein paar hundert oder auch von tausend Jahren wurde Politik überall so gemacht wie im Hotel Scotts, in vielen Weltteilen ist es noch heute so. Aber selten wird man in Europa zwei Abgeordnete finden, die so unverhohlen einer vormodernen, klientelistischen Politik frönen wie die Healy-Raes. Michaels “Sekretär“ heisst Jackie Healy-Rae und ist sein eigener Sohn. Er schreibt Notizen in ein Buch: Anliegen, Telefonnummern, Anlaufstellen, die Details. Dazwischen eilt er in die Hotelhalle, holt Vorinformationen ein und bestimmt, wer von den Bittstellern an der Reihe ist. Dafür bezieht er einen Teil des Salärs, das dem Vater aus dem parlamentarischen Spesenbudget zusteht.

Die Healy-Raes stammen aus Kilgarvan, einem 30 Autokilometer südlich von Killarney gelegenen Dorf. Die Landstrasse R569 bildet hier eine S-Kurve, die von steinernen Reihenhäuschen gesäumt wird. Die Tourismusbehörde lobt in ihrem jährlichen “Tidy-Town“-Bericht (“schmuckes Städtchen“) die Bewohner für die bunten Fassaden. Der Alltag ist jedoch grau. Die wirtschaftliche Erholung nach dem Kollaps von 2008 erreichte Kilgarvan bisher nicht. Während des Immobilienbooms hatten Spekulanten in dem 160-Seelen-Dorf in zwei Überbauungen investiert. Eine davon, 26 massiv gebaute Ferienhäuser, steht völlig leer, der Linewood-Estate mit einem Dutzend für Pendler gedachten Wohnhäusern zur Hälfte.

Die Krise vernarbt langsam

Vor zehn Jahren waren die Kaufpreise auf 200 000 Euro pro Einheit geklettert, dann platzte die Blase. Hypothekenbanken, die die Liegenschaften seither beschlagnahmten, bieten sie zu einem Viertel des damaligen Werts an. “Du wirst hier keine Häuser los, ausser du verschenkst sie“, sagt Dermot Twomey, ein pensionierter Lehrer und sorgfältiger Beobachter der Zeitläufe im Dorf. Nach Einbruch der Dunkelheit wirkt Kilgarvan gespenstisch, nur aus wenigen Fenstern dringt Licht. In einem Erker schlägt ein Pudel an, ein roter Kater überquert die Strasse. Der Geruch vom Rauch von Steinkohle liegt in der Luft. Bemerkenswerterweise gibt es im Ort noch immer drei Pubs, eines davon ist die “Jackie Healy Rae's Bar“, benannt nach dem verstorbenen Vater und Clan-Chef der Healy Raes. Jackie war Bauer und Rinderzüchter, in den sechziger Jahren begann er, Traktoren zu verleihen, dann auch Baumaschinen, und machte damit ein Vermögen. Die Wirtschaft, die den Bauern der Umgebung als Wohnzimmer dient, wird von Danny Healy-Rae geführt. Der frisch gekürte Abgeordnete gehörte dem Grafschaftsrat von Kerry an, jetzt übernimmt Maura, eine von sechs Töchtern, den Sitz. Das Mandat bleibt in der Familie. Bewohner der Gegend sagen, dank Danny sei die R569 die am besten ausgebaute und unterhaltene Nebenstrasse in der ganzen Grafschaft. Die Healy-Raes haben freilich auch Kritiker, es heisst, sie mobbten jeden, der nicht mit ihnen klarkomme. Soweit sie ein pilitisches Programm verfolgen, ziehen sie gegen die Bürokratie zu Felde. Danny nennt eine Reform der Ambulanzdienste, die er rückgängig machen will. Er sagt, seit die Krankenwagen der lokalen Gesundheitsdienste zentral von Dublin aus eingesetzt würden, passierten schlimme Fehler. “Wie kann man so dumm sein?“, fragt er. Die Disponenten in der Hauptstadt redeten anders als die Krankenwagenfahrer in Tralee oder Cork. “Missverständnisse sind unvermeindlich.“ Laut Healy-Rae raste eine wegen eines Herzinfarkts herbeigerufene Ambulanz statt nach Lispole auf der Halbinsel Dingle nach Listowel 70 Kilometer weiter nördlich. Immerhin, der Patient überlebte.

Ein ungewöhnlicher Vorschlag

Danny hat seit 1979 im “Healy Rae“-Pub nichts verändert. Die Ablagen sind aus Holz gezimmert, das Cheminée ist mit Gusseisen umrahmt, der Küchenherd wird mit Torf und Kohle befeuert. Zwischen populär und populistisch liegt ein schmaler Grat. Die Healy-Raes kultivieren die Wut der Zukurzgekommenen vom Lande, die von der Dubliner Elite übergangen würden. Vor drei Jahren regte Danny im Grafschaftsrat von Kerry ein Gesetz an, nach dem ländliche Gebiete von der 0,5-Promille-Grenze für Autofahrer ausgenommen werden sollten. Die Männer auf den Bauernhöfen der Umgebung vereinsamten, wenn sie abends nicht zwei, drei Pint Guiness trinken und dann nach Hause fahren dürfen, sagt Danny. Er zitierte Statistiken, nach denen irische Bauern eine der höchsten Suizidraten Europas ausweisen, und behauptete, die strenge Schnapslimite gefährde Menschenleben. Der Vorstoss brachte die Haely-Raes in die Schlagzeilen, blieb aber chancenlos. Die Kritik, sie machten es sich leicht, weil sie keine Verantwortung übernähmen, lassen sie nicht gelten. Bei der Parlamentseröffnung im März sprach Danny Healy-Rae den etablierten Parteien ins Gewissen. Er erzählte, wie die Healy-Raes früher geschlossen für eine der grossen Parteien gestimmt hätten. Das irische Wählerverhalten ist teilweise bis heute “tribalistisch“, das heisst, man gibt seine Stimme einer der beiden Grossparteien nicht wegen derer Programme, die sich kaum unterscheiden, sondern wegen der Gruppenzugehörigkeit. Die Healy-Raes waren, was man eine “Fianna-Fail-Familie“ nannte. Jacky war Abgeordneter, aber dann überwarf er sich mit der Parteileitung. Seither kandidieren die Healy-Raes als Parteilose.

Danny hält eine Jungfernrede

Danny wusste also, wovon er sprach, als er am Tag der Parlamentseröffnung das Wort ergriff und sagte, Fianna Fail und Fine Gael sollten ihre historische Feindschaft überwinden, deren Grubd niemanden mehr interessiere, und eine grosse Koalition bilden. “Wenn das kein verantwortungsvolles Votum war“, sagt Michael Healy-Rae, der Bruder, anerkennend.

Fazit: Die Promillegrenze treibt Einsame in den Suizid.

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