Freitag, 15. April 2016

Neue Zürcher Zeitung: Indiens Flirt mit der Prohibition: Alkohol haftet in Indien etwas Lasterhaftes an. Daraus lässt sich politisches Kapital schlagen. Ein Verbot schafft aber mehr Probleme, als es löst.

Die Zahl der Inder, an deren Wohnort ein Alkoholverbot gilt, ist am 1. April um 100 Millionen Menschen gestiegen. An diesem Tag hat der Regierungschef des nordindischen Gliedstaates Bihar, Nitish Kumar, sein Wahlversprechen vom letzten Jahr eingelöst und lokale Produkte mit Alkoholgehalt verboten. Fünf Tage später wurde das Gesetz auf ausländische Erzeugnisse ausgeweitet. Nach Gujarat, Nagaland und Manipur ist Bihar der vierte indische Gliedstaat mit Prohibitionsgesetzen. Ein fünfter könnte bald folgen. In Tamil Nadu haben mehrere Kandidaten im Wahlkampf um das Amt des Regierungschefs die Einführung eines Alkoholverbots in Aussicht gestellt. In Kerala ist der Konsum noch erlaubt, die Vergabe von Schanklizenzen wird aber immer restriktiver gehandhabt. Mittelfristig wird auch für die Ferienregion an der Südspitze des Subkontinents ein Totalverbot angestrebt.

Reverenz an Gandhi

Indien hat ein zwiespältiges Verhältnis zum Alkohol. Der Konsum ist relativ weit verbreitet, jeder dritte Inder trinkt gelegentlich ein Glas. Dennoch haftet dem Alkohol etwas Lasterhaftes an, und Rufe nach einem Verbot haben eine lange Tradition, auch Mahatma Gandhi war dafür. Dass die Verfassung explizit fordert, auf die Prohibition hinzuarbeiten, darf als Reverenz an den Übervater der Unabhängigkeitsbewegung gesehen werden, ebenso das Totalverbot in dessen Heimatstaat Gujarat. Gandhis Geburtstag gilt wie einige andere Feiertage landesweit als «trockener Tag», an dem kein Alkohol verkauft wird.
Dabei spielen nationale und religiöse Befindlichkeiten eine Rolle. Zwar ist Alkohol im Hinduismus nicht verboten wie im Islam, Exzess und Intoxikation sind aber verpönt. Zudem wird Alkohol oft als ausländisches Übel, als Überbleibsel der britischen Kolonialherrschaft dargestellt, obwohl es schon vor dem Auftauchen von international populären Getränken wie Whiskey und Rum lokale Alkoholerzeugnisse gab. Die jüngsten Trends hin zur Prohibition werden deshalb auch im Zusammenhang mit dem Erstarken nationalreligiöser Kreise seit dem Machtantritt unter Premierminister Narendra Modi betrachtet. In mehreren Gliedstaaten wurde in der Folge verboten, Rindfleisch zu verzehren. Kühe gelten im Hinduismus als heilige Tiere. Aber in Indien leben auch mehr als 140 Millionen Muslime und 30 Millionen Christen.
Stärker noch als auf rechtskonservative Wähler haben es die Politiker mit ihren Wahlversprechen auf die Frauen abgesehen. Bei ihnen ist die Prohibition besonders beliebt. Zahlreiche Frauenrechtsorganisationen kämpfen gegen den Alkohol, der vornehmlich von Männern konsumiert wird, was gerade ärmere Familien finanziell stark belastet und nicht selten am Anfang von häuslicher Gewalt steht. Bihars Regierungschef Kumar hat früher mit Quotenregelungen bei Wählerinnen gepunktet. Das Versprechen, Alkohol zu verbieten, ist eine Fortsetzung dieser Strategie.

Bevormundung der Bürger

Der Wahlerfolg gab Kumar recht, auch dank den vielen weiblichen Stimmen setzte er sich überraschend klar gegen seine Konkurrenten durch. Das Alkoholverbot stellt ihn dennoch vor Probleme. Bihar, einem der ärmsten Staaten Indiens, entgehen dadurch Einnahmen aus Steuern und Lizenzen von schätzungsweise 40 Milliarden Rupien (575 Millionen Franken). Die Regierung von Tamil Nadu müsste sogar einen Ausfall von 4 Milliarden Franken verkraften, einem Viertel der direkten Staatseinnahmen. Vor allem aus finanziellen Gründen haben Gliedstaaten wie Andhra Pradesh und Mizoram einst geltende Alkoholverbote rückgängig gemacht.
Ihre deklarierten – und durchaus erstrebenswerten – Ziele erreichen die Prohibitionsgesetze kaum. Zwar geht der Konsum bei einem Verbot zurück, gänzlich unterdrücken lässt er sich aber nicht, wie zahlreiche historische Beispiele zeigen. Für ein Land wie Indien mit grassierender Korruption und notorischen Schwierigkeiten, Gesetze umzusetzen, gilt dies umso mehr. Zudem ist mit einer Zunahme illegal gebrannten und somit potenziell gefährlicheren Alkohols zu rechnen. Die öffentliche Gesundheit profitiert kaum, der Staatskasse aber gehen Milliarden verloren.
Grundsätzlichere Kritik am Vorhaben üben liberale Kreise, die in Indien eine zunehmende Bevormundung der Bürger ausmachen. Anders als das klar die Muslime diskriminierende Rindfleischverbot sind Prohibitionsgesetze zwar nicht direkt gegen eine Bevölkerungsgruppe gerichtet, entmündigend sind sie allemal. Der indische Staat hatte immer ein paternalistisches Verhältnis zu seiner als weitgehend rückständig wahrgenommenen Bevölkerung. Von gesellschaftlicher Liberalisierung ist im Jubiläumsjahr, ein Vierteljahrhundert nach der Öffnung der indischen Wirtschaft, wenig zu spüren.


Fazit: Prohibition führt zur Panscherei.

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