Dienstag, 8. März 2016

Die Welt:Wer hier aus der U-Bahn steigt, ist selber schuld

Das Zentrum des Berliner Bezirks Kreuzberg war immer ein unruhiger Ort. Aber jetzt heißt es, das Kottbusser Tor sei eine weitere "No-go-Area" in Deutschland. Was ist das eigentlich? Eine Ortsbegehung.


Von der Möckernbrücke kommend ist das Kottbusser Tor nicht mehr als eine Markierung, ein runder, leerer Punkt auf dem Liniennetz, die Schnittstelle zwischen dem vertikalen Blau der U8 und dem horizontalen Grün der U1. Die U-Bahn fährt ein und zerschneidet die Sicht auf die Wandtafel mit der Fahrinformation, ich steige ein.

Dutzende von Nächten am Kottbusser Tor

Die U1 fährt überirdisch; Schienen gebaut auf Stahlstreben und Balkonpfeilern. Wer U1 fährt, ist auf Augenhöhe mit den leuchtenden Verschlägen der Mietshäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Menschen hausen wie Tiere im Bau; man sieht sie nicht. Wer unterwegs ist, wer draußen ist, der neidet das Drinnensein, das Zuhausesein der Fremden. Berlin-Kreuzberg. "Kottbusser Tor – Übergang zur U8". Die Stimme der Ansagerin klingt indigniert, als gebe es dem Tatbestand Kottbusser Tor nicht viel hinzuzufügen, wer will, der kann ja aussteigen und selber sehen.
Orte sind etwas Kompliziertes. Gerne würde ich schreiben: "Dutzende von Nächten meines Lebens habe ich am Kottbusser Tor verbracht, mit meinen Hipsterfreunden habe ich Unmengen Alkohol im 'Monarch' oder im 'SO36' getrunken, während gleichzeitig die Dealer ihr Heroin vertickten und die Kinder der türkischen Gastarbeiter in ihren Betten schliefen." Es wäre nichts falsch an diesem Satz. Aber ein Ort ist ja etwas anderes als Sätze, ist etwas anderes als die Geschichten von Gleichzeitigkeit und sozialer Überlappung, die man sich über ihn erzählt.
Jetzt ist Nacht. Mit dumpfer Selbstverständlichkeit ragt das "Neue Kreuzberger Zentrum" über den Platz, ein irrsinnig kolossaler Bau aus den frühen Siebzigern, von dem es heißt, er sei gelb und weiß. Jetzt ist er schwarz, es leuchten nur die Fenster. Auch das so eine Geschichte: Sozialbau, eine irre, wilde Vision von betonesker Urbanität. Aber was sagt das dem Besoffenen, der in der Bar "Möbel Olfe" ein Bier kippt und kurz vor dem Aufriss steht? Was sagt das dem türkischen Fischhändler in seinem Laden in den dunklen Unterführungen unter dem Hochhauskoloss? Was sagt das mir, die ich gerade die Straße überquere?
Ich habe einen Freund gebeten, mich zu begleiten. Ich habe noch nie irgendjemanden gebeten, mich zum Kotti zu begleiten, aber das Narrativ der Gefahrensuche gebietet die Annahme der Gefahr. Denn es heißt, am Kotti sei es gefährlich geworden in letzter Zeit, also nicht nur ein bisschen Einmal-im-Jahr-erster-Mai-und-hin-und-wieder-werden-ein-paar-Dealer-hopsgenommen-gefährlich, sondern eher so Nordafrikanische-Banden-übernehmen-den-Kiez-gefährlich. In der linken Wochenzeitung "Jungle World" stand gerade ein Text, der schilderte, wie einem jungen Mann mit dem "Antanztrick" das Portemonnaie gestohlen, wie eine junge Frau tagsüber begrapscht und ihr ein Bein gestellt wurde.

Woran merkt man, dass eine Gesellschaft kippt?

Im Internet gibt es ein Video, auf dem man sieht, wie ein homosexuelles Paar von nächtlichen Verfolgern mit Gürteln geschlagen wird. Im Internet reagierten einige Leute sehr wütend auf diesen Artikel, weil er einen Sozialarbeiter zitiert, der sagt, die Polizei ermittle unter anderem wegen der Herkunft der Täter nicht richtig. Die alte Geschichte: ein Streit, als würde die Realität erst so werden, wie sie ist, indem man sie beschreibt. Es darf nicht gesagt werden, weil es nicht sein darf. Und gleichzeitig: Was wäre, wenn es "so ist", wenn es vermehrt zu dieser Art von Ereignis gekommen ist in letzter Zeit? Macht das aus dem Kotti einen anderen, einen düsteren Ort? Ist er dann verloren, vorbei, ein Symptom, eine "No-go-Area"?
Woran merkt man, dass eine Gesellschaft kippt, dass die Atmosphäre birst? Daran, dass die Straßen düsterer werden? Spürt man das zu jedem gegebenen Zeitpunkt oder nur, wenn einem etwas widerfährt? Ist "einfach hingehen" überhaupt die richtige Methode, um so etwas herauszufinden, oder sagt die Kriminalstatistik mehr als das Gefühl zu einem bestimmten Zeitpunkt, spätabends, Ende Februar? Während ich die Straße von der U-Bahn-Mittelinsel zum Kaiser's überquere, lese ich die Facebook-Nachricht, die mir der Freund schreibt, er kündigt an, seinen "Killerhund" zur Verstärkung mitzubringen. Ich kenne den "Killerhund", einen halbstarken Mischling mit Clownsgesicht und grünen Augen, ich muss lachen. Mir kommt ein Mann mit dunkler Hautfarbe und gestylten Augenbrauen entgegen, er macht mein Lachen nach und hakt sich bei seinem Freund unter. Aggression, klar.

Keine Hunde im "Kottiwood"

Der Döner hinter den blauen Leuchtebuchstaben, die ins "Casino 36" weisen, heißt Kottiwood: "Sorry, keine Hunde", sagt der Verkäufer, und dann sagt er noch "Maschendrahtzaun" in gut gelauntem Sächsisch. Etwas weiter die Reichenberger Straße hinunter stehen sich vor einer dunklen Hausfront zwei Reihen von Männern gegenüber: Männer in Polizeiuniform, stumm, aufrecht, ein bisschen verloren, und Männer in zerschlissenen Sport- und Funktionsjacken. Vier Männer je Reihe. Ein Polizist hält ratlos zwei DIN-A4-Seiten in der linken Hand. Sein Gegenüber steht auch still, nur seine Hände zucken im Fünfzehn-Sekunden-Takt zu seiner Stirn hinauf, er streicht sich immer wieder über die Haare. Der Funktionsjackenmann, der am nächsten an mir dran steht, hat hinten unter seiner Jacke einen eckigen Auswuchs, er ist geformt wie die Kiepe einer Holzsammlerin.

"Macht Spaß, zuzugucken, ne?", sagt ein kleiner älterer Herr mit türkischem Akzent, der um den Hals eine orangefarbene Schlüsselkette von OBI trägt. Was die denn genau mit den Dealern machen, wollen wir wissen, weil wir die Choreografie des stummen Voreinanderstehens und Zuckens nicht verstehen. "Die wollen die Papiere", sagt der kleine Mann und zuckt mit den Schultern. "Ist auch richtig so." Er sei von einer privaten Sicherheitsfirma, er passe auf das Haus auf. Wer einen da denn so beauftrage, wollen wir wissen. "Privat", sagt der Mann, "privat."
Am nächsten Morgen sind sie alle wieder da, der kleine, verhungert aussehende Dealer, der so gezuckt hat, umarmt einen dicken Jungen, der konspirativ in der Gegend herumsteht. "Habibi" – Freund, Liebling. Am Himmel Helikopterlärm, der kleine Mann fasst seinem Kumpel auf die Schulter und zeigt hoch. Das Herumstehen, das Sich-Zurufen von verschiedenen Enden der Straße. Dealen scheint eine langsame, komplizierte Choreografie zu sein. Eine Frau murmelt immer wieder: "Na, das ist doch überschaubar." Sie lächelt freundlich.
Auf den Anhänger eines Umzugsunternehmens hat eine Frau mit Locken einen ausgestopften Fuchs gesetzt. Sie fotografiert ihn mit einer Analogkamera. Eine ältere Frau mit Kopftuch kommt vorbei und fragt: "Ist der echt?" "Nein", sagt die Frau, "der ist ausgestopft." "Aber war der mal echt?", fragt die andere Frau. "Na, ich hab den jetzt nicht totgemacht", sagt die mit den Locken. Sie geht weiter, Richtung Gemüsemarkt. Die Dealer stehen immer noch in der Reichenberger Straße. Eigentlich ist gar nichts passiert.


Kernaussage: Einst soffen Hipster am Kotti.


Zur Reportage der Zeitung Die Welt

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