Freitag, 4. März 2016

Die Welt: "Die Leute haben es sich nicht ausgesucht"

Im Hamburger Stadtteil Altona leben immer mehr Obdachlose. Bis zu 500 von ihnen werden durch die "Alimaus" mit Essen versorgt. Berührungen mit Flüchtlingen gibt es bislang kaum. Ein Besuch.

Die letzten Nachtfröste des Winters sind noch nicht vorüber und trotzdem: Toni möchte heute unbedingt etwas Farbe pflanzen. Von Supermärkten in der Gegend hat er ein paar Blumen geschenkt bekommen, die sollen nun den tristen Garten am roten Holzhaus zwischen Endo-Klinik und Jüdischem Friedhof beleben. Das ist zwar ein Risiko wegen der erwähnten Nachtfrostgefahr, aber der 55-Jährige probiert es trotzdem.
 
Wenigstens versuchen: Nach dem Verlust seines Arbeitsplatzes rutschte Toni vor Jahren in die Obdachlosigkeit und fing mit dem Trinken an. Der Bahnhof Altona war damals sein Zuhause. Toni kämpfte sich zurück, traf in der "Alimaus" die richtigen Leute zur richtigen Zeit und hilft dort seitdem als Hausmeister, Gärtner oder Fahrer.
 
Toni – der schmächtige Schnurrbartträger mit langem Wintermantel und blauem Baseball-Cap – ist ein Vorbild für die anderen. Er hat längst wieder eine eigene kleine Wohnung gefunden und gute Aussichten auf einen Job. So gut wie ihm geht es in der "Alimaus", der größten Obdachlosenspeisung der Stadt, längst nicht jedem. Immer mehr Menschen leben in St. Pauli und Altona auf der Platte. Immer mehr strömen in die "Alimaus" – bis zu 500 sind es am Tag.
 
Keine 200 Meter von der sündigen Meile entfernt hat der engagierte Hilfsverein St.Ansgar in gut 20 Jahren am Nobistor eine soziale Meile für die Ärmsten der Stadt geschaffen: die Essensausgabe "Alimaus", die Kleiderkammer "Don Alfonso", die Seelsorge "Metanoite" und das "Nobis Bene", wo die Obdachlosen medizinisch versorgt werden und duschen können. Hierhin verirrt sich kein Tourist, hierher kommt nur, wer gar nichts mehr hat und am Boden ist.
 
"Bei uns können sie sich wenigstens ein bisschen aufwärmen"
 
"Wer zu uns kommt, der hat einen Grund. Diese Leute haben es sich nicht ausgesucht. Und im Übrigen soll sich niemand zu sicher sein, dass ihm dieses Abrutschen nicht auch passieren kann. Das geht ganz schnell", sagt Holger Triebel (63), der seit letztem Jahr die "Alimaus" leitet, und in sein vertäfeltes Büro bittet. Triebel hat noch seine Schürze an. Der Chef hat bei der Essensausgabe geholfen. Morgens gibt es für die Obdachlosen Frühstück, nachmittags ein warmes Essen – beides kostenlos. "Die meisten haben richtig Kohldampf und nehmen auch gern Nachschlag. Bei uns können sie sich wenigstens ein bisschen aufwärmen." Sogar einen Spieleabend bieten die "Alimaus"-Mitarbeiter im Winter an, nur am Sonntag ist geschlossen.
 
Pater Karl Meyer von den Dominikanern rauscht mit seinem Fahrradhelm unterm Arm ins Büro. "Moin Moin", grüßt er. Die 17 Kilometer mit dem Fahrrad zum Nobistor sind für den 78-Jährigen kein Problem, für sein Baby, die "Alimaus", würde er vermutlich noch viel weiter fahren. Pater Karl Meyer zählt zu den Aufbaumitgliedern der Obdachlosenspeisung, heute ist er Vorsitzender und hat erlebt, wie die Einrichtung in den vergangenen Jahren stets gewachsen ist: "1993 haben wir mit einem Zirkuswagen angefangen und hatten rund 100 Gäste am Tag. Heute sind es in unserem finnischen Holzhaus schon 500", erzählt Meyer.
 
In den letzten Jahren wurden es immer mehr Obdachlose, vor allem die Saisonarbeiter aus Bulgarien oder Polen nutzen das Essensangebot in der "Alimaus", sie campieren im Sommer in ihren alten Wohnmobilen auf dem Parkplatz. "Und viele dieser Arbeiter, die es hier nicht schaffen, enden dann als Obdachlose auf der Reeperbahn. Diese Leute schämen sich nach dem Scheitern hier in ihre Heimat zurückzukehren. St.Pauli hingegen ist tolerant", wirft Holger Triebel ein.
 
Berührungen mit Flüchtlingen haben die "Alimaus"-Leute bislang kaum – sie kommen nur vereinzelt vorbei. "Aber es werden sich bestimmt nicht alle bei uns integrieren können und von daher kann es gut sein, dass wir künftig aus diesem Bereich mehr Zulauf bekommen", sagt Pater Karl. Die Flüchtlingskrise sei Gesprächsthema in der Einrichtung. Viele Stammkunden der Essensausgabe – darunter sind auch viele Hartz-IV-Empfänger und verarmte ältere Menschen aus dem Viertel – fürchten um ihre Plätze in der "Alimaus". "Sie verstehen oft auch nicht, warum Flüchtlinge ihrer Ansicht nach sofort Geld bekommen und sie selbst alles mühevoll beantragen müssen", berichtet Holger Triebel und signalisiert dem Pater, dass es nun Zeit ist, das Haus zu zeigen.
 
Leckere Gerichte aus gespendeten Lebensmitteln
 
In der Küche führt Schwester Henrike (80) vom Orden der Thuiner Franziskanerinnen das Regiment. Ihre Spezialität ist es, aus den von Supermärkten, Restaurants und von Unternehmen gespendeten Lebensmitteln leckere Gerichte zu zaubern. "Heute gibt es eine Nudelpfanne mit Gemüse, einen grünen Salat, Eiersalat und zum Nachtisch Quarkspeise mit Erdbeeren. Die Leute brauchen vor allem Vitamine", sagt die Küchenchefin, die alles verarbeitet, was die vielen ehrenamtlichen Helfer am Tag aus ihrem Transporter laden. "Schauen Sie mal, was für wunderbare Trauben. Kann man doch nicht wegschmeißen", sagt Holger Triebe und schiebt sich schnell eine blaue in den Mund.
 
Rund 20 Ehrenamtliche helfen in der "Alimaus" täglich, sie schmieren Brötchen, schälen Kartoffeln, spülen Geschirr oder sammeln Spenden ein. Oder sie verteilen Brötchen wie Melanie, die ihr Freiwilliges Soziales Jahr macht, sich gerade ein Tablett schnappt und auf den Essensraum zusteuert.
 
"Kommen Sie, wir müssen unbedingt noch zu Schwester Egberta", lässt Pater Karl wissen und eilt, vorbei am grabenden Toni, durch den Vorgarten Richtung Penny-Markt. In der Ladenzeile gegenüber ist das Reich von Schwester Egberta und Helferin Kerstin, deren Arbeit wohl jedem Besucher absoluten Respekt abnötigt: Verdreckte Kleidung waschen, Hautkrankheiten sowie Wunden versorgen und immer wieder Fußpflege. Regelmäßig kommt auch ein Arzt, aber die Arbeit an der Basis, das machen Schwester Egberta und Kerstin, denen die Obdachlosen vom Kiez über die Jahre ans Herz gewachsen sind.
 
Pater Karl bläst höflich zum Aufbruch, in einer knappen Stunde steht sein Mittagessen in Barmbek auf dem Tisch: "Wenn Sie noch mit Toni sprechen wollen – machen Sie das gern. Der Toni hat es geschafft." Wenn in der "Alimaus" doch nur alle so zähe Kämpfer wie er wären. Dann hätten sie gute Chancen, dem Leben auf der Platte, dem Vollsuff und der Hoffnungslosigkeit zu entkommen.
 
 
Fazit: Platte, Vollsuff, Hoffnungslosigkeit - keine Einbahnstraße
 
 
 
 

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